Das andere «Wort zum Sonntag» oder: «Gedenke der vorigen Zeiten»

Am vergangenen Mittwoch, 17. Mai, hatte der deutsche Rechtsanwalt Ralf Ludwig einen Stellungswechsel zu vollziehen. Im Amtsgericht von Garmisch-Partenkirchen fand er sich erstmals selber auf der Anklagebank wieder. Sein Vergehen: Ende November 2020 hatte er in einer Ansprache den kritiklosen Gehorsam heutiger Polizisten mit der gewissenlosen Willfährigkeit eines Adolf Eichmann verglichen.

Für die eifrige Staatsanwältin war das kein Vergleich der Gesinnung, sondern eine Gleichsetzung der Menschen und ihrer Taten. Sie schwang die berüchtigte 130er-Keule. Nach diesem Paragrafen des deutschen Strafgesetzbuches wurde Ludwig der Volksverhetzung beschuldigt. Gemäss jener Logik hätte er die Polizisten indirekt als Eichmänner und ihr Verhalten als auf einen Massenmord gerichtet qualifiziert.

Hat er aber nicht. Sondern am Ende stimmte sogar der Garmischer Richter ein in Ludwigs Appell «Wehret den Anfängen», was soviel heisst wie: «Nehmt aus der Geschichte die Grundzüge und Haltungen wahr, aus denen damaliges grosses Leid erwuchs. Denn wer weiss schon, zu welchem Leid wir heute beitragen, wenn wir ähnliche Einstellungen hinnehmen, billigen, gutheissen.»

Auf prägnante Weise beschrieb der Jurist und Journalist Milosz Matuschek vor zwei Monaten diese Zusammenhänge. Gedenktage seien nicht dazu da, dass man notvolles Geschehen in wohlbemessene «Zeitkapseln verbannt und konserviert» und damit letztlich eine «Vergessenspolitik für die Gegenwart» betreibt, sondern: «Der treffende Vergleich ist zugleich eine aktivierte Erinnerung.»

Umgekehrt führt dann das Erinnerte in eine aktivierte Gegenwart. Oder warum sonst sollten sich unmittelbar nach Kriegsende so viele Menschen die Seele aus dem Leib geschrieben haben? Aus dem frisch Erlebten heraus wollten sie Hilfen geben für die Zukunft; so zum Beispiel der spätere Mitherausgeber der «Zeit», Ernst Friedländer, in seinem 1947 erschienenen Heft «Von der inneren Not»:

«Auf eine höchst rätselhafte Weise sind wir geschichtslos geworden»; die «unzähligen Einzelleben» muten an «wie ein sinnloses Auf-der-Stelle-Treten». «Wir haben keine Zukunft, solange allzuviel Vergangenheit uns hat.» Um davon freizukommen, «muß jedes um Erkenntnis ringende Wort zugelassen werden zu dieser inneren Not.»

Wer solche Erkenntnisse aus Vergangenem aus nur schlecht verbrämtem neuen Machtdenken heraus verwehrt, der tritt damit in die Fußstapfen eben jener, die er in eine Singularität des Bösen verbannt wissen wollte. Anders gesagt: «Wer den Vergleich nicht zu scheuen braucht, lässt ihn zu.» (Matuschek)

«Nur der Kleine ist im Grossen unersättlich», schrieb der Offizier und spätere Begründer des Bundesgrenzschutzes, Walter Bargatzky, im Jahr 1946 in seinem Heft «Schöpferischer Friede» und fährt fort: «Wir waren tapfer – jeder unserer Gefallenen und Verwundeten beweist es –, aber mutig waren wir nicht. Zum Mut bedarf es der Demut und der Frömmigkeit. (…) Wir waren brutal. Brutalität aber ist der Mut der Gottlosen.»

Lehren aus der Vergangenheit, gezogen aus grösster Not. Aber «ohne den Vergleich mit der Vergangenheit» gibt es eben keine »Erkenntnis für die Gegenwart» (Matuschek). «Vergleichen bedeutet verstehen und infolgedessen verhindern können.» Das gilt für die Wege, die in eine Not geführt hatten, ebenso wie für die Erkenntnisse, die eine solche Zeit den Damaligen offenbart hatte.

In allgemeinpolitischen Zusammenhängen vollzieht sich damit dasselbe, was dem Volk Israel explizit aufgetragen war:

«Gedenke des ganzen Weges, den dich der HERR, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, damit kundwürde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.»

5. Mose 8, Vers 2

Jene unrühmlichen vierzig Jahre tauchen hier frank und frei als Teil der eigenen Geschichte auf. Sie werden weder tabuisiert noch mystifiziert: Weder werden sie abgekapselt zu einem großen Noli-me-tangere der Vorzeit, an die man nicht erinnert werden möchte, noch müssen sie herhalten als Projektionsfläche kleiner Geister, die ihre eine Überlegenheit daran abarbeiten.

Dunkle Zeiten tragen dann Frucht, wenn sie zum bleibenden Mahn- wie Maßstab werden, an dem sich das Handeln in der Gegenwart nun zu bewähren hat. Einmal hatten sie überdeutlich offenbart, wozu man selber, wozu der Mensch, wozu eine Gesellschaft fähig war – auf dass eine spätere Zeit, eine andere Generation die Gebote, das Gebotene, ernster nehme und für ihre Kinder ein besseres Zeitenerbe hinterlasse.

«Gedenke an den HERRN, deinen Gott; denn er ist’s, der dir Kräfte gibt.» 5. Mose, Vers 18

Insofern: «Wehret jenen Anfängen – und setzt selber bessere auf dem Weg mit Gott, dem Herrn.»

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Wort zum Sonntag vom 14. Mai 2023: Nicht auf halbem Weg stehen bleiben

Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.

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