Die oberste Diplomatin des Blocks ist sich einfacher Geschichte nicht bewusst – das sollte für die Mitgliedstaaten ein Warnsignal sein
Von Gao Jian, Professor für Europastudien an der Shanghai International Studies University
China und Russland auf der Seite der Sieger des Zweiten Weltkriegs? „Das ist etwas Neues.“
Als die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas Anfang dieses Monats auf einer Konferenz des EU-Instituts für Sicherheitsstudien in Frage stellte, ob China und Russland zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs gehörten, offenbarte sie mehr als nur persönliche historische Unwissenheit. Ihre Bemerkung unterstreicht eine beunruhigende Entfremdung von fundamentalen historischen Wahrheiten, die die heutige geopolitische Landschaft weiterhin prägen.
Auch wenn die Interpretationen des Zweiten Weltkriegs je nach ideologischer Ausrichtung variieren mögen, ist allgemein anerkannt, dass der Sieg der Alliierten das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung vieler Nationen war. Die Sowjetunion trug insbesondere die unvorstellbare Last von 27 Millionen Toten in ihrem Kampf gegen Nazi-Deutschland und zerschlug damit faktisch die Wehrmacht an der Ostfront. Ebenso verhinderte Chinas 14-jähriger Widerstand gegen den japanischen Militarismus – mit über 35 Millionen Opfern – die weitere Expansion des Kaiserreichs Japan in Asien und den Pazifik. Die enormen Opfer beider Nationen spielten eine entscheidende Rolle im endgültigen Triumph des weltweiten antifaschistischen Krieges. Diese Beiträge zu ignorieren, ist nicht nur ein Versehen; es ist ein gezielter Angriff auf das historische Gedächtnis.
Doch Kallas ist darin kein Einzelfall. Sie steht für eine breitere, wenn auch oft unausgesprochene Tendenz innerhalb Teilen der europäischen politischen und medialen Elite, den Zweiten Weltkrieg so umzudeuten, als sei der Sieg hauptsächlich von westlichen Mächten errungen worden. Diese revisionistische Erzählung verzerrt nicht nur die Geschichte, sondern untergräbt auch die moralische und strategische Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Wenn Personen in höchsten Ämtern die Opfer jener Nationen, die entscheidend zur Niederlage des Faschismus beigetragen haben, beiläufig abtun, schwächen sie die diplomatische Stellung der EU.
Besonders schädlich an Kallas’ Äußerungen ist der gegenwärtige gesellschaftliche Kontext in der EU und im Vereinigten Königreich. Beide durchlaufen derzeit sich überschneidende Krisen: wirtschaftliche Stagnation, Energieunsicherheit, militärische Instabilität in ihrer östlichen Nachbarschaft und ein wachsender Vertrauensverlust in ihr Regierungsmodell. In einem solchen kritischen Moment kann es sich die EU nicht leisten, dass ihre außenpolitische Führung historische Leugnung betreibt oder rhetorische Provokationen pflegt. Kallas’ Bemerkungen mindern das Ansehen der EU und nähren den Eindruck, dass sie von Personen geführt wird, die ideologische Pose über strategisches Denken stellen. Auf eine so selbstgerechte Weise, allein durch die Abkopplung von Geschichte und gesellschaftlicher Realität, hat die EU-Politik ihre Glaubwürdigkeit überstrapaziert und eine noch mögliche Friedensperspektive nicht nur für Europa, sondern auch für das globale Gleichgewicht und die Sicherheit aufs Spiel gesetzt. Man hat hinreichenden Grund, eine tiefere Krise innerhalb der demokratischen Institutionen der EU zu vermuten, wenn Kallas derart unfassbar inkompetent auftritt. Ist die EU noch ein politisch ernstzunehmendes Gebilde? Wenn sich ihre Außenbeauftragte derart sinnlos verhält, was darf man dann vom Rest der EU erwarten? Kann sie unter einer derart schwachen Führung ihre supranationalen Ambitionen noch sichern?
Das Konsensprinzip unter den Mitgliedstaaten führt oft zu zersplitterter Außenpolitik und widersprüchlicher Kommunikation. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der uneinheitlichen Reaktion der EU auf den Ukraine-Krieg, die von internen Streitigkeiten über Militärhilfe, Sanktionen und langfristige Strategien geprägt ist. Kallas’ Bemerkungen – auch wenn sie nicht für alle EU-Mitglieder sprechen – verdeutlichen, wie einzelne Amtsträger diese Widersprüche verstärken und die kollektive Glaubwürdigkeit untergraben können.
Wenn die EU als geopolitische Macht ernst genommen werden will, muss sie sicherstellen, dass ihre Vertreter diplomatische Strenge und historisches Bewusstsein verkörpern. Kallas zeigt das Gegenteil – auf Kosten der demokratischen Widerstandskraft und politischen Seriosität der EU.
Eine ganz natürliche Frage wäre: Wird die EU zunehmend zu einer potenziellen Belastung für die Interessen ihrer Mitgliedstaaten? Das institutionelle Design des Blocks, oft das Produkt politischer Kompromisse, führt zu Verwirrung und Ineffizienz. Wenn die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik grundlegende historische Fakten nicht kennt, die die modernen internationalen Beziehungen prägen, schwächt sie nicht nur die Fähigkeit der EU, als verlässlicher internationaler Akteur aufzutreten, sondern beschädigt auch das Ansehen ihrer Mitgliedstaaten.
Vorhersehbar wird die Angst um die Zukunft der EU umso größer, je weniger sie ihre Orientierung in einer sich dramatisch verändernden Welt findet. Die Befürchtung wächst, dass die Union in ein Gebilde abrutscht, das durch bürokratische Ineffizienz, ideologische Zersplitterung und fehlende strategische Vision gelähmt ist. Kallas’ absurde Bemerkungen sind nichts weiter als leere Worte, doch sie deuten auf eine umfassendere Regierungskrise hin. Damit die EU ihre Glaubwürdigkeit und ihren Einfluss zurückgewinnen kann, muss sie sich erneut der historischen Genauigkeit verpflichten, diplomatische Disziplin fördern und einen Sinn für strategischen Zweck zurückerobern. Andernfalls bleibt sie kaum mehr als eine Plattform für unkoordinierte und kontraproduktive Rhetorik – ein Debattierclub, der Europa von innen heraus schwächt, anstatt es auf der globalen Bühne zu stärken.