Das andere «Wort zum Sonntag» oder: die persönliche Energiewende

Die heutige Nacht darf man getrost als eine historische bezeichnen. Ohne Not stossen die Menschen, die sich kollektiv «deutsche Regierung» nennen, das Land in einen Blindflug noch nicht absehbaren Ausmasses hinein. Die letzten drei Atomreaktoren sollen vom Netz genommen und dann verschrottet werden.

Spät hat das Lamentieren eingesetzt. Die Abschaltung sei «eine grosse Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland» lässt sich nun Astrid Hamker vernehmen, ihres Zeichens Präsidentin des «Wirtschaftsrats». «Die drei Kernkraftwerke hätten bis Ende des Jahrzehnts weiterlaufen können», erklärt ein Joachim Bühler vom TÜV. Je nach Umfrage wollen zwei Drittel bis vier Fünftel aller Deutschen, dass die Atomkraftwerke weiterhin betrieben werden.

Doch das Aus war bereits vor zwölf Jahren beschlossen worden, noch unter Merkel. «Fukushima» habe den Ausschlag gegeben, auch wenn jenes Kraftwerk technisch ziemlich anders ausgelegt gewesen sei als hiesige. Einmal mehr werden wir Zeugen eines «Politischen Moralismus», von einem «Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft», wie das gute Büchlein von Hermann Lübbe aus dem Jahr 1989 lautet (Neuauflage 2019).

Auf der Plattform «Petition für Demokratie» verlangen inzwischen 80’000 Menschen ein «Ja zur Kernenergie – Laufzeiten sofort verlängern!» Ende der Zeichnungsfrist: Samstag, 15. April 2023. Und die ARD brachte eine vielbeachtete «Doku» mit dem Titel «Deutschland schaltet ab – Der Atomausstieg und die Folgen». Sendedatum: Dienstag, 11. April 2023.

Es ist nun weniger das politische Hin und Her, das mich hier interessiert, als die Frage: Wenn die Fakten und Meinungen so eindeutig sind, warum hat dann der Protest so lange gedauert? Was «geht da ab», dass eine vernünftige Mehrheit fast regelmässig zu spät kommt und dann – nein, nicht vom Leben, aber von einer ideologisierten Führungsgilde bestraft wird?

Die plötzliche «Empörung» einiger Medienvertreter dürfte leicht zu erklären sein: Man will im nachhinein nicht gänzlich unglaubwürdig dastehen und hätte wenigstens noch so etwas wie eine Stimme erhoben; ein bisschen Glaubwürdigkeit muss erhalten bleiben. Bei den Sprechern von Verbänden ist es wohl vielschichtiger. Die Motive reichen von später Feigenblatt-Kritik, über die man sich’s kaum mehr mit jemandem verdirbt, bis zu einem «Endlich fragt uns jemand; dabei sagen wir das doch schon lange».

Und die sogenannte breite Masse? Hier sehe ich das grössere geistige Elend liegen: eine Art von müder Zerrissenheit, irgendwo zwischen ohnmächtigem Rest-Zutrauen, träger Gleichgültigkeit und schlichter Überforderung; von einem «Die werden schon nicht …» über ein «Das wird schon irgendwie» zum resignierten «Jetzt auch das noch».

Natürlich sind 80’000 Unterschriften innerhalb kurzer Zeit ein schönes Ergebnis. So mancher war da immerhin noch mit seiner Ansicht halbwegs nach aussen getreten. Aber was mir in dem Ganzen fehlt, sind Stimmen, die sich rechtzeitig und unideologisch Gehör verschaffen.

  • Fachverbände? Wohl kaum die bestehenden. Sondern es müssten sich je nach neu aufgeworfenem Thema verbandsübergreifende Gremien bilden, die ihre Finger in die wunden Stellen legen.
  • Medien? Wohl kaum die bisherigen. Ihre Hörigkeit und Unterwanderung dürften sich herumgesprochen haben. Dann schon eher gezielte Aktionen verschiedenster Journalisten gleichzeitig.
  • Kirchen? Oh weh. In der Demokratie wären sie das Gegenüber zum Staat. Sind es aber nicht; zu eng hängen sie mit ihm historisch, finanziell und moralistisch zusammen. Ad-hoc-Zusammenschlüsse von kritischen Theologen, die konkret Verantwortung und Rechenschaft zum Wohle aller einfordern? Gerne, ja.

Worauf läuft das jetzt hinaus? Einmal mehr auf ein Plädoyer für freies Denken, Reden und Handeln. Aber das kommt nicht von selber. «Die heidnische Phrase: ‹Man muß sich umstellen› hat den Sachverhalt erfaßt. Jetzt muß er beseelt werden.» (Eugen Rosenstock-Huessy)

Auch der griechische Mathematiker Archimedes suchte nach einer solchen Wende: «Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.» Diesen Punkt benennt ein anderer antiker Autor recht konkret, wenn er schreibt:

«Laßt es, euch dieser Weltzeit anzugleichen. Sondern laßt euch umgestalten kraft der Neuung des Denkens, so daß ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.» Römerbrief 12, Vers 2 (nach der Übersetzung von Fridolin Stier)

Paulus spricht hier indirekt vom Glauben an den Auferstandenen. «Nicht meine Sache?» «Viel zu weit weg von den drängenden Fragen und Problemen?» – wirklich?

Meine persönliche Vorhersage geht in eine andere Richtung: Berechnende Willkür von oben und erschöpfte Trägheit von unten werden Volk und Land noch weiter zu Boden stossen – wenn nicht landauf, landab kleine Scharen zusammenfinden und sich verdichten, die ihr eigenes Denken immer wieder erneuern lassen an dem einen Punkt, bei der Einen Person, der sie und unsere Welt trägt und erneuert.

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Wort zum Sonntag vom 9. April 2023: Ostern in den eigenen vier Wänden

Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft auch an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.

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